Abitur 2019 – Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ – Analyse und Interpretation – Ein Seminar für Lehrer und Schüler

Sehr geehrte Deutschlehrerinnen und sehr geehrte Deutschlehrer,

entschuldigen Sie bitte dass ich gleich mit der bekannten Tür ins Haus falle. Ich weiß dass sich das nicht schickt. Schon gar nicht für jemanden der seit zweihundertdreissig Jahren tot ist. Da sollte man einfach die Klappe halten, und den Lebenden das Feld überlassen. Würde ich auch gerne machen. Wäre da nicht mein Trauerspiel Emilia Galotti.

Damals nannte ich es: Emilia Galotti – Ein Trauerspiel. Daraus geworden ist: Emilia Galotti – Ein bürgerliches Trauerspiel. Jetzt sagen Sie vielleicht: „Lieber Lessing, nun halte mal den Ball flach. Es gibt Schlimmeres. Ein Wort mehr oder weniger, ist das wirklich so wichtig?“ Leider ja. Denn dieses unscheinbare, kleine Adjektiv macht aus meinem Trauerspiel ein langweiliges und altmodisches Lehrstück!

Und alles nur wegen meinem Brief an Friedrich Nicolai in Berlin. Der hatte nicht nur zu einem Autoren-Wettstreit unter dem Motto „Wer schreibt das beste Trauerspiel“ aufgerufen, sondern auch noch ein schönes Preisgeld gestiftet. Weil ich wegen meiner Leidenschaft fürs Glücksspiel mal wieder pleite war, wollte, nein mußte ich teilnehmen. Inkognito, versteht sich. Also hab ich ihm geschrieben, dass „ein junger Mensch“, der natürlich ich selber war, an einem Trauerspiel arbeite: „Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben.“ Peng! Und schon war es passiert. Dieses bürgerlich aus diesem einen Brief, den ich, fünfzehn Jahre bevor das Stück überhaupt fertig war, geschrieben habe, klebt nun bis in alle Ewigkeit an meinem Werk. Dabei meinte mein bürgerlich doch gerade das Gegenteil von dem, was später daraus gemacht wurde! Es meint Emilia als Mensch, als bloßes Mitglied der Zivilgesellschaft. Nicht als Vertreterin irgendeiner Klasse. Zumal die Galottis keine Bürger, sondern Landadelige sind.

Das wollte ich auch dem Franz Mehring, dem Verfasser der berühmten Lessing Legende erklären. Wir begegneten uns kürzlich in einem dieser blechernen Luftschächte im Hamburger Schauspielhaus. Es zog schrecklich und roch nach Kantinenessen. Trotzdem hielt er mich auf und bekundete mir wortreich seine grenzenlose Bewunderung für meine Emilia Galotti. „Das Stück ist eine Abrechnung mit dem Absolutismus, eine Kampfansage an das sittenlose, verkommene Aristokratenpack, Emilias Schicksal ein flammendes Fanal, ein Aufruf zur Revolution! Würden wir noch leben“, rief er pathetisch, „dann wären wir Genossen! Parteigänger des Proletariats! Wegbereiter der Menschheitsbefreiung!“ Ich entgegnete einigermaßen verzweifelt, dass ich doch gerade  kein  vordergründig politisches Stück hatte schreiben wollen. Aber Mehring schnitt mir das Wort ab: „Verehrter Lessing, entschuldigen Sie, da muss ich Sie, bei allem gebotenen Respekt, korrigieren. Er zitierte aus meinem fatalen Brief an Nicolai und verschwand im Dunkeln, ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen.

Diese Begegnung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich ein Klassenkämpfer? Emilia Galotti Revolutionspropaganda? Ich musste etwas unternehmen. Nur was? Und mit wessen Hilfe? Allein würde ich es niemals schaffen. Und dann dachte ich an Sie! An Sie als Deutschlehrer! Als “Deutsch-Retter”! Helfen Sie mir, mein Stück zu retten!

Ich bat den Chef um Urlaub. Von der Ewigkeit. Um die Angelegenheit persönlich zu klären. Doch ER meinte, tot sei tot, da gäbe es keine Ausnahme. Immerhin durfte ich mir einen Vertreter, eine Art irdischen Rechtsbeistand suchen. Einzige Bedingung: Derjenige müßte an einem 15. Februar, meinem Todestag, geboren sein. Na toll! Nur, was sollte ich machen? Es war eine klitzekleine Chance.

Natürlich gibt es eine Menge Leute, die an einem 15. Februar geboren sind. Nur, was nützt mir ein Friseur, ein Bäcker oder ein Atomphysiker, wenn er mit dem Thema nichts anfangen kann? Doch endlich, ich hatte schon aufgeben wollen, habe ich jemanden gefunden. Einen Theatermenschen. Ich bin dem armen Kerl in Gestalt meines Denkmals vom Hamburger Gänsemarkt, auf den Glockenschlag um Mitternacht im Traum erschienen und habe ihm mit bronzen-dröhnender Stimme zugerufen: „Rette Emilia Galotti! “

Hilfe! Hat der sich erschrocken!

Aber – es hat funktioniert! Und deshalb gibt es jetzt ein Seminar, einen Workshop, und sogar ein neues Theater-Stück zu meinem Stück! Ja! Wirklich! Dieser Mensch hat tatsächlich ein eigenes Theaterstück geschrieben:„emilia galotti unplugged“. Darin läßt er Emilia die Ereignisse aus ihrer Sicht erzählen. Wirklich spannend. Sogar für mich! Überzeugen Sie sich selbst, und entdecken Sie eine völlig neue Emilia Galotti!

Vielen Dank! Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr sehr ergebener

Gotthold Ephraim Lessing

Hamburg, im Januar 2019

 

Das Stück – emilia galotti – unplugged

„emilia galotti – unplugged“ – ist ein Eine-Frau-Stück, dass speziell für Aufführungen in Schulen, im Klassenraum, geschrieben und inszeniert wurde. Ergänzt durch ein, im Anschluss stattfindendes Inszenierungsgespräch, und mit einer Gesamtdauer von etwa neunzig Minuten, läßt sich das Format perfekt in den Deutsch-Unterricht integrieren. Der technische Aufwand ist minimal – was wir mitbringen passt locker in einen Koffer.

Aber warum eigentlich „emilia galotti – unplugged“? Gibt es der allseits bekannten Geschichte vom adligen Schürzenjäger der die tugendhafte, fast verheiratete, bürgerliche Emilia entführen, ihren Bräutigam ermorden, und sich – da die Braut den Tod einem Leben in Schande vorzieht – um die Früchte seines Anschlags betrogen sieht, noch Neues hinzuzufügen? Wir meinen: „Ja“!

„emilia galotti – unplugged“ lässt die Titelheldin zum ersten Mal selbst erzählen was ihr an jenem Tag passierte. Indem wir die Ereignisse gleichsam mit Emilias Augen sehen, kommen wir ihr nahe. Und damit auch der Antwort auf die zentrale Frage des Stückes: „Warum stirbt Emilia?“ Lässt sie sich wirklich moralisch korrekt von ihrem Vater hinmeucheln? Ist sie eine Gans, oder ein Luderchen, wie Geheimrat Goethe ratlos fragte?
Für Lessing, den unumstritten hellsten Kopf der deutschen Aufklärung, war das „schwache“ Geschlecht das eindeutig stärkere. Frauen heißen bei ihm weder Gretchen noch Käthchen, und sie denken selbst. Was also passierte wirklich auf Schloss Dosalo? Mit „emilia galotti – unplugged“ sind wir auf Spurensuche gegangen, und haben erstaunliche Entdeckungen gemacht. An denen wir Lessing-Freunde, Deutsch-Enthusiasten, und überhaupt alle Interessierten sehr gerne teilhaben lassen wollen.

Beteiligte:
Selina Iglesias – Schauspielerin
Michael JurgonsText und Regie

Dauer:
Etwa neunzig Minuten. Eine kurze Pause

Aufführung:
Etwa vierzig Minuten.

Inszenierungsgespräch im Anschluss:
Etwa fünfundvierzig Minuten.

Maximale Personenzahl:
Dreissig Schülerinnen und Schüler

Kosten insgesamt:
Zweihundertfünfzig Euro pro Aufführung. Bei Doppel-Vorstellungen an einem Tag und am gleichen Ort zweihundert Euro pro Aufführung.

Zielsetzung:
Unser Projekt will dazu einladen, die traditionelle Sicht auf Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ kritisch zu hinterfragen, und so den klassischenText neu zu entdecken.

Adressaten:
Deutsch-Fachlehrer, die gymnasiale Oberstufe, Abiturklassen der STS, Deutsch-Leistungskurse

Schulform:
Stadtteilschule, Gymnasien

Räumliche Voraussetzung:
Klassenraum, oder ähnlicher, nicht zu großer Raum. Freie Bestuhlung, für die  Aufführung möglichst halber Stuhlkreis, für das Inszenierungsgespräch ganzer Stuhlkreis.

Terminabsprache:
Bitte über Michael Jurgons
Tel.: 040-22757413 (abends) oder 0174-2407649 (tagsüber)
E-Mail: dietheatermacher@t-online.de

Gesamtleitung:
Michael Jurgons

 

 

Patrick Abozen (als Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla)
Cem-Ali Gültekin (als Marchese Marinelli)

Das Seminar

Dauer: Fünfundvierzig oder neunzig Minuten

Voraussetzung: Keine, außer Kenntnis des Stückes und Neugier.

In dem, als Ergänzung zum Unterricht angelegten Seminar Emilia Galotti – (k)ein bürgerliches Trauerspiel lernen die Teilnehmer das Stück auf neue und aufregende Weise kennen. Es zeigt sich, dass die gewohnten Erklärungsmuster vom Kampf des Bürgers Galotti gegen den Adeligen Gonzaga zu kurz greifen. Durch die unvoreingenommene Sicht auf die Geschichte gewinnen alle Charaktere, besonders aber die Frauenfiguren und allen voran Emilia, an Dimension. Lessings Drama präsentiert sich als zeitlos moderner psychologischer Politthriller.

Der Workshop

Der Workshop bietet die Möglichkeit im Seminar gemachte Entdeckungen praktisch zu überprüfen und zu vertiefen. Professionell angeleitet erleben die Teilnehmer die Geschichte aus der Sicht einzelner Figuren. Sie erfahren Bedeutung und Wirkung von Text und Subtext in konkreten Bühnensituationen. Einzelne Schlüsselszenen des Stückes werden gemeinsam erarbeitet, anschließend gezeigt und besprochen.

Über mich

In Leipzig geboren. Nach der Schule Ausbildung zum Buchdrucker. 1977/78 Militärdienst. Anschließend von 1978 bis 1982 Regie-Studium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Noch während des Studiums erste Inszenierung: Die Witwen von Akos Kertesz am Deutsch-Sorbischen-Volkstheater in Bautzen. Nach dem Studium erstes Engagement am Eduard von Winterstein Theater in Annaberg. 1984 Meisterschüler an der Akademie der Künste Berlin. 1987 Engagement am Deutschen Theater in Berlin. Dort entstanden mit Das Tagebuch eines Wahnsinnigen von Nikolai Gogol, adaptiert von Werner Buhss, und Kein Runter Kein Fern von Ullrich Plenzdorf zwei Aufsehen erregende, sehr erfolgreiche Inszenierungen. Der Berliner Zeit folgten Inszenierungen am Staatstheater Cottbus, und 1992 schließlich das Angebot am Staatstheater in Schwerin Jean B. Molièrs Komödie Der Menschenfeind zu inszenieren. Diese Arbeit mündete in ein fast achtjähriges Engagement, welches 1999 endete. Während dieser Zeit entstanden Inszenierungen wie GeorgeTaboris Goldberg-Variationen, Heinrich von Kleist’s Amphitryon, Molières Don Juan, Shakespeares Hamlet, Prinz von Dänemark und Othello, der Mohr von Venedig, Schillers Dramen Die Räuber und Don Karlos am Theater in Ulm. Mit Othello wurde das Schweriner Theater zum Berliner Theatertreffen 1994 eingeladen. Dem Engagement in Schwerin folgte die bis heute andauernde Arbeit als freier Regisseur. In diese Zeit fallen Inszenierungen am Südthüringischen Staatstheater von J. W. Goethes Stella, J. B. Molière’s Tartuffe, Loewe und Lerner’s Musical My Fair Lady. Letzteres zuerst auch in Meiningen, und dann zur Eröffnung der Spielzeit 2007/08 am Opernhaus Dortmund. 2008 Gründung des freien Tournee-Theaterunternehmens Die Theatermacher GmbH. Inhaltlichen Schwerpunkt bildete die deutsche und die internationale Klassik. Mit Inszenierungen von F. Schillers Die Räuber, G. E. Lessings Emilia Galotti, C. Zuckmayers Der fröhliche Weinberg und H. v. Kleist’s Der zerbrochne Krug entstanden vier große Theaterproduktionen die bei mehr als sechzig Gastspielreisen erfolgreich in Deutschland und der Schweiz gezeigt werden konnten. Daneben weiterhin freie Arbeit als Regisseur und Autor.

Kontakt

Michael Jurgons
Regisseur

Gerstäckerstraße 12
20459 Hamburg
Tel.:040/ 227 57 413
mobil: 0174/ 240 76 49
mailto: dietheatermacher@t-online.de

Die Räuber: Nicht so ungestüm, allergnädigste Prinzessin

Die Räuber: Was? Sie lieben eine andre?

Räuber eroberten Herzen

Hessische Allgemeine Fritzlar/Homberg, 08.08.2011

Theatermacher aus Hamburg zeigten Schillers Klassiker

Von Michael Auerbach

Fritzlar. Die Räuber waren los in den Mauern von Fritzlar. Wer erwartet hatte, dass Schüsse knallen, Säbel geschwungen werden und Kunstblut floss, wurde enttäuscht. Dafür blinkte verführerisch bunt ein Geldspielautomat.(…)

Es war ein erregendes, klassisches Schauspiel in modernem Outfit, welches die Theatermacher aus Hamburg unter der Regie von Michael Jurgons lieferten. Da gab es einige spektakuläre, grelle Szenen, in denen die Banditen auch mal hautnah den Zuschauern zwischen Dom und Rathaus auf den Pelz rückten. Und es gab eindringliche und affektgeladene Momente. Schillers emotionale, vitale Sprache beherrschte das Stück und stellte hohe Anforderungen an Darsteller und Zuhörer.(…)

Rasant wechselten die Handlungen hin und her zwischen dem Grafenschloss und dem Dunstkreis der Banditen. Mit Schlagzeug, Ukulele und Akkordeon setzte Michael Reffi Akzente zu den Dialogen. Die Schauspieler bewältigten die Herausforderungen der Rollen mit Bravour, zeigten ihre Kunst, verliehen den gegensätzlichen Charakteren markanten Ausdruck. Gezeichnet von der Anstrengung, aber mit freudigen Gesichtern verbeugten sie sich kurz nach Mitternacht vor dem Publikum. Das war, begeistert von der eindrucksvollen Theaterleistung, aufgestanden und applaudierte stürmisch. Es schien, als hätten die Räuber die Herzen der Zuhörer erobert.

Die Räuber

Friedrich Schiller

Ein Schauspiel

Vollendet 1780

Der Ort der Geschichte ist Teutschland

Ein Besucher der Uraufführung am 13. Januar 1782 in Mannheim: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie ein Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht“

DIE RÄUBER sind leidenschaftliches, rasantes, aktionsgeladenes Theater. Ein irrer, wirrer Traum junger Männer von großen Taten, Heroismus, Männerfreundschaft, Liebe und Trieb mit dem sich Schiller den erzwungenen und verhassten Aufenthalt in der berüchtigten Karlsschule seines württembergischen Landesvaters von der Seele schrieb. Mit Franz und Karl Moor, den beiden ungleichen Brüdern, ließ er die Antipoden der gespaltenen deutschen Seele – Despotismus und Idealismus bühnenwirksam zusammenkrachen. DIE RÄUBER waren ein ohrenbetäubender Weckruf, der bürgerliche und adelige Zeitgenossen gleichermaßen aufschreckte und dessen Echo bis heute nachhallt. Der visionäre Verseschmied Schiller schraubte 1780 in seiner Dichterwerkstatt Monster zusammen, deren Spuren, nicht nur in der deutschen Geschichte, für immer als Schneise der Verwüstung erkennbar bleiben werden.

Schillers „Räuber“ in die Neuzeit katapultiert

Neue Osnabrücker Zeitung, 20.09.2010

Theatermacher aus Hamburg überzeugen in Sögel mit zeitloser Parabel über jugendliche Welt- und Lebensentwürfe

Von Roland Quinten

Sögel. Es gibt in Deutschland – nicht nur bei Pädagogen, sondern auch beim kulturell interessierten Publikum – eine stille Übereinkunft darüber, was unter einem „Literatur- Klassiker“ zu verstehen ist, also unter einem Text, sei es ein Gedicht, ein Prosatext oder ein Drama, von dem man überzeugt ist, dass es notwendig und nützlich ist, ihn zu kennen.

Diese Literatur findet sich nicht nur in Lektürekanons kultusministerieller Lehrpläne wieder, sondern gehört zum selbstverständlichen Repertoire von Theaterbühnen. Zu diesen Klassikern gehört auch Schillers erstes Jugendwerk „Die Räuber“, das am Samstagabend in der Aula des Hümmling-Gymnasiums in Sögel von der jungen Theatertruppe der „Theatermacher“ aus Hamburg mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Doch Vorsicht! Es ist nicht leicht, einen solchen Klassiker mit reichlich Staub und Patina – Schillers Stück ist immerhin schon 230 Jahre alt – so aufzuführen, dass es nicht nur ältere bildungsbürgerliche Schichten anzusprechen versteht, sondern auch junge Menschen, die so alt sind wie Schiller, als er die „Räuber“ schrieb.

Michael Jurgons, der als Regisseur Schillers Stück mit seinen 13 Schauspielern in die Neuzeit katapultierte, wusste genau, was er tat. Er verzichtete auf jegliche Form von Ideologie oder politischen Konzepten, legte den Schiller’schen Anspruch auf moralische Unterweisung seines Publikums beiseite und konzentrierte sich auf das, was die „Räuber“ tatsächlich zum zeitlosen Theaterstück macht. Seine Inszenierung verkörpert die ungeheure Energie der jungen Generation. Seine Räuber sind weder politisch noch religiös motivierte Terroristen, sondern Getriebene ihrer Leidenschaften. Sie rebellieren gegen die Weltordnung ihrer Väter und verzweifeln an der den Willen Gottes offenbarenden Natur. Sie suchen Glück, Liebe, Anerkennung, Macht und Wahrheit in einer eigenen, von traditionellen Werten losgelösten Welt – und scheitern letztendlich. Durch diesen modernen Fokus macht Jurgons zusammen mit seinem überzeugend agierenden Schauspielerensemble aus dem „Klassiker“ eine zeitlose Parabel über jugendliche Welt- und Lebensentwürfe, die der eigentliche Motor jeder Form von menschlichem Zusammenleben sind.

Das Bühnenbild von Carolin Roider stellte einen ansprechenden Hintergrund für das energetisch hoch aufgeladene, zuweilen bis an die Grenzen des Chaotischen tastenden Bühnenspiels zur Verfügung. Sehr gut gefiel auch die Idee, einzelne Szenen durch hervorragende Schlagzeugsoli zu akzentuieren. Kompliment.

Radiokommentar von Christoph Huppert zur “Räuber Aufführung” in Hameln

Einen Theatervulkan entfacht

Cuxhavener Nachrichten, 20. 11.2009
Riesen-Beifall für Hamburger Theatermacher / Schillers „Räuber“ sind im 21. Jahrhundert angekommen

Von Jens Potschka

CUXHAVEN. Intellektuelle Kraft und Fantasie, eine Sprache voller Elan, Präzision und Wohlklang, einen Sinn für Tragik und für die „großen Gegenstände der Menschheit“ – all das wie auch ein untrügliches Gespür für Bühneneffekte und ein perfektes Timing wurde dem Dramatiker Friedrich Schiller aus berufenem Munde vielfach bestätigt. All das kann sich auch heute noch einem Theaterpublikum mitteilen, sofern die schillerschen Werke nicht als bloßes Bildungsgut inszeniert werden.

Davon war die jüngste Inszenierung der „Räuber“, die die Hamburger Theatermacher jetzt im fast voll besetzten Stadttheater gaben, meilenweit entfernt. Was Regisseur Michael Jurgons und sein junges Ensemble darboten, war

ein echter Theatervulkan. Von der ersten bis zur letzten Minute erlebte das zum Teil recht junge Cuxhavener Theaterpublikum eine Räuberbande, die, angefüllt mit Testosteron bis zur Unterlippe, sich kreischend und grölend ihrer Schandtaten brüstete. Dabei sind die zwölf Darsteller und die einzige Schauspielerin (Diana Ebert als Amalia von Edelreich) mit einem Körpereinsatz bei der Sache, der rasant und energetisch aufgeladen ist, dass es die Zuschauer zuweilen in ihre Sitze drückt. Diese Räuber sind Getriebene ihrer Leidenschaften, was sie suchen, ist Liebe, Macht, Wahrheit und Geld – koste es, was es wolle. Schillers bekanntes Jugendstück hat der Hamburger Regisseur kurzum auf einen Müllplatz verfrachtet (Ausstattung: Carolin Roider). Da leuchtet rechts ein kleiner Hase am Bühnenrand. In der Mitte steht ein helles, abgewetztes Sofa. Ansonsten gibt es überall zerbeulte Ölfässer.

Hundert Prozent Schiller

Vorne links an der Rampe hat der Musiker Michael Reffi mit seinem Schlagzeug Station bezogen, der in dieser durch und durch kraftvollen Inszenierung rhythmische Akzente setzt, die nicht minder energiegeladen sind als das Spiel seiner darstellenden Kollegen. Musik und Gesang bilden ein wesentliches Element in dieser Inszenierung, werden zudem geschickt als Schnitt-Technik benutzt. Ansonsten gibt es für die Besucher mit Blick auf den Text zu 100 Prozent Schiller. Michael Jurgons erzählt die Geschichte der beiden verfeindeten Brüder Franz und Karl Moor auf eindringliche Weise. Er lässt die schillerschen Studenten von einst und ihren tödlichen Familienzwist austragen.

Gunnar Frietsch gibt seinen Franz als übel-intriganten Schleimer, der seinem charismatischen Bruder, dem Bandenanführer Karl Moor (überzeugend dargeboten von Patrick Abozen), buchstäblich die Pest an den Hals wünscht. Auch der Spiegelberg (Cem Gültekin) ist im Hier und Jetzt angekommen. In Jogginghose und Shirt treibt er gemeinsam mit den anderen turnschuhtragenden Rabauken sein brutales Spiel. In letzteres wird das Publikum direkt mit einbezogen, weil die Darsteller von der Bühne in den Zuschauerraum stürzen, über Sitzereihen klettern oder auf dem Fußboden kriechen. Das ist Theater von einer Intensität, die sogar zu riechen ist. Diese „Räuber“ sind authentisch und wahrhaftig.

Schiller als explosiver Bühnen-Rausch

Schwarzwälder Bote, 16.11.2009
Packende “Räuber” mit den “Theatermachern” aus Hamburg / Begeistertes Publikum in der Nagolder Stadthalle

Von Irmeli Thienes

Nagold. „Ich bin mein Himmel und meine Hölle“ sagt Karl Moor am Ende, erdrückt von der Schwere des eigenen Versagens. Liebe neben niederschmetternder Schuld, Reue ohne Erlösung als den Tod – die Innenwelten der Schillerschen „Räuber“ spiegelt die junge Hamburger Truppe „die Theatermacher“ in einem Bühnen-Rausch, explosiv, kraftvoll, fett. Das große Publikum in der vollen Stadthalle vergaß alles drum herum.

Minutenlang hielt der Applaus an, Gejohle und Getrampel folgten. Viele junge Erwachsene waren darunter, Gymnasiasten und das zeigte: Die moderne Inszenierung hatte sie gepackt.

In der Tat bringen die Schauspieler Schillers Kraft, den Kampf der Gefühle auf die Bretter, machen aus der alten Halle ihren Räuberwald. Sie stürmen die Reihen, fegen über Stühle, brüllen den Menschen ins Gesicht. Und das Ensemble bleibt – wunderbar ! – nah am Text. Die Körperlichkeit aller 13, zwölf Männer neben Amalia, ist überwältigend.

Sie entblößt sich, wo es das Stück ihrer Seele abverlangt, es stürzen Männer von der Bühne, klatschen hörbar auf. Von Tod und Gemetzel zeugt ohrenbetäubendes Tonnen-Getrommel. Rauch und Schweiß wabern von der Bühne. Und doch gewinnt des blutjungen Schillers „Räuber“ in dieser Inszenierung (Regie Michael Jurgons) gerade auch aus den leisen, poetischen Momenten an Dynamik.

So hehr der Karl (Patrick Abozen), so niederträchtig Intrigant Franz (Gunnar Frietsch) wie widerlich, schmierig opportunistisch der Moritz Spiegelberg (Martin Heise), so leidenschaftlich wie stimmlich beachtlich die Amalia (Diana Ebert) – die Bühnenpräsenz aller ist enorm. Mit Klumpfuss-Klötzen erzeugt Carolin Roider (Ausstattung) den schweren Gang des alten Vaters Maximilian von Moor, mit Jogginghosen und Chucks aktualisiert sie die Räuberkluft. Und auch Bob Marlys „Iron lion zion“ trägt bei zum Bild wie von den Krawallen in den Pariser Banlieus 2005 – Horden rebellierender Jugendlicher, zu allem entschlossen und mittendrin ein irre lachender Schweizer.

Für Witz, Schmelz und den Schreck im richtigen Moment sorgt Musiker Michael Riffi und bei allem schadet es nicht, dass Amalia sehr oft raucht, die Verständlichkeit manchmal der Preis des leidenschaftlichen Vortrags ist und der alte Moor nicht wirklich alt wirkt – denn nie leiden die Inhalte, immer ist Schiller präsent – was kann man in seinem Geburtsjahr schöneres wünschen ? Nur vielleicht noch den nächsten Auftritt der Theatermacher GmbH.

Niederträchtige Räuber in der Stadthalle

Nordbayerischer-KURIER.de, 29. 10. 2009
BAYREUTH. Eine bunte Truppe aus Draufgängern, Taugenichtsen, Aussteigern und Träumern – das sind Schillers Räuber. Auf der Bühne der Bayreuther Stadthalle trieben sie am Dienstag ihr Unwesen, zogen raubend, schändend, mordend durch die deutschen Wälder. Die Aufführung: ein Gastspiel der Theatermacher GmbH aus Hamburg. Das Ensemble lieferte dem Publikum eine moderne Inszenierung des über 200 Jahre alten Stücks, ohne den Schiller-Stoff allzu sehr zu entfremden.

„In den Tiefen mancher Seele tun sich Abgründe auf, schlechte Menschen Missetäter gab es immer schon zu Hauf: Räuber und Banditen, Mörder auch sogar – dies ist jetzt das Lied von einem, der ihr König war“, singt die Räuberbande zu Beginn des Schauspiels. Seelische Abgründe tun sich in der dreistündigen Aufführung in der Tat viele auf. Bei der Räuberbande, die sich immer wieder schreiend, johlend, kreischend mit ihren Schandtaten brüstet. Zum Beispiel damit, wie sie eine ganze Stadt niederfackelte, um einen Kameraden vom Galgen zu befreien. „83 Tote für Roller“, ruft einer stolz. Ein anderer zählt auf, wer sterben musste: „Kranke, Greise, Hochschwangere, Kinder.“

Packend, neben der schauspielerischen Leistung, auch Michael Reffis musikalische Begleitung. Harte Schlagzeug-Soli bringen die innere Zerrissenheit der Charaktere zum Ausdruck, Melodien auf Akkordeon und Ukulele ihre Trauer, Wünsche, Sehnsüchte. Regisseur Michael Jurgons ist mit seiner Version der „Räuber“ eine gelungene Umsetzung des Schiller-Stoffs geglückt. Das Bayreuther Publikum belohnte die dreistündige Aufführung mit lang anhaltendem Applaus.

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